Herausforderungen und die Richtungen der europäisch-amerikanischen Politik gegenüber Bosnien und Herzegowina

Sarajevo, 18 December 2022-26
Krug 99 (Circle 99)
Herausforderungen und die Richtungen der europäisch-amerikanischen Politik gegenüber Bosnien und Herzegowina
Das Dayton-Abkommen und das durch seine Unterzeichnung geschaffene Verfassungsregime von Dayton stellten einst den Höhepunkt der liberalen internationalen Ordnung nach dem Kalten Krieg dar. Es war und bleibt vielleicht die Krönung der amerikanischen Diplomatie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dennoch ist Abkomen vonDayton in Bosnien und Herzegowina selbst zum Synonym für eine Politik der permanenten Krise, des Konflikts und der institutionalisierten Diskriminierung geworden. Dayton als diplomatischer Vertrag und Dayton als eigentliche Verfassungsordnung stehen also im Konflikt. Und dieser Konflikt hat die Entwicklung Bosniens zu einer funktionierenden, rationalen, rechtsstaatlichen und liberalen Demokratie verhindert.
Die Lösung dieses Konflikts wird durch zwei primäre Dynamiken behindert: eine internationale und eine interne. Intern bevorzugen und befürworten große Teile des politischen Establishments von Bosnien und Herzegowina aktiv ethno-sektiererische Werte und Prinzipien gegenüber den liberal-demokratischen Normen der EU und der NATO, auch wenn sie auf ihrem Bekenntnis zur Mitgliedschaft Bosniens in beiden Organisationen bestehen. International haben die führenden Regierungen der atlantischen Gemeinschaft historisch versucht, das bestehende ethno-sektiererische Verfassungsregime zu stärken, in dem Glauben, dass Bosnien einen nachhaltigen Punkt der inneren Spaltung erreichen kann, der an sich nicht zu einer Quelle ständiger und/oder erneuter Konflikte und Krisen wird. Dieser Ansatz hat nie funktioniert. Dies blieb jedoch die vorherrschende Logik sowohl der amerikanischen als auch der europäischen Diplomatie gegenüber Bosnien. Man wollte nicht die Fortsetzung eines offenen Konflikts zu riskieren, um der Schaffung eines echten liberal-demokratischen Regimes beizutragen.
Infolgedessen hat sich die internationale Gemeinschaft oft – zufällig oder aus Versehen – in den Dienst eben jener sektiererischen Reaktionäre gestellt, gegen die sie sich nominell wendet. Eine besonders ergreifende Illustration dieses Prinzips kam am 2. Oktober 2022, als der Hohe Repräsentant Herr Christian Schmidt das Wahlgesetz und die Verfassung der Entität  Föderation von Bosnien und Herzegowina (FBIH) änderte, um das ethno-sektiererische Konzept innerhalb dieser Entität ausdrücklich zu stärken, und dies am Tag der allgemeinen Wahlen selbst, wobei jede erdenkliche demokratische Norm verletzt wird, die diese breitere euro-atlantische Gemeinschaft ausmacht. Herr Schmidt hat dem Kampf um demokratische Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit in Bosnien eine historische Niederlage beigebracht, von der sich das Land möglicherweise noch Jahrzehnte nicht erholen wird. Kurz gesagt, er hat einen Akt des politischen Vandalismus begangen.
Doch trotz dieser perversen strukturellen Dynamik und trotz der spezifischen bösartigen Folgen von Herrn Schmidts Handlungen bleibt die Hauptkrise in Bosnien und Herzegowina politisch; vor allem die Kompetenzkrise im sogenannten pro-bosnischen Lager. Entgegen ihren öffentlichen Behauptungen fehlt es bei diesen Akteuren fast vollständig an einer wirklich demokratischen Politik, an einer wirklich liberalen Politik und an einer Politik, die die vorherrschenden ethno-sektiererischen Strukturen, die dem Land nach 1992 und nach 1995 aufgezwungen wurden, wirklich abbauen will. Diese Tatsachen lassen sich leicht an der Unfähigkeit oder Weigerung des kollektiven pro-bosnischen Establishments demonstrieren, auch wenn es nur darum geht ein kollektives Aktionsprogramm zur Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität des Staates zu formulieren. Anstatt entweder SNSD oder HDZ als die offensichtlichsten Bedrohungen für die bosnische Staatlichkeit zu identifizieren und zu versuchen, sie so weit wie möglich daran zu hindern, zumindest die Staatsmacht zu erlangen, wird das pro-bosnische Lager durch kleinliche Fraktionen zerrissen, daraus resultierten Jahrzehnten ununterbrochener Herrschaft von zwei der gefährlichsten staatsfeindlichen Elemente im Land.
Unzählige weitere Beispiele für dieses Problem lassen sich gerade in den letzten Wochen aus den täglichen Schlagzeilen entnehmen. Aber für uns ist eine der demütigendsten Manifestationen dieses Scheiterns die tiefe Überzeugung aller Teile des nominell pro-bosnischen Lagers, dass der Fortschritt in diesem Land von einem “Perspektivenwechsel” innerhalb der internationalen Gemeinschaft abhängt – aber auch von ihrem gleichzeitigen und kategorische Weigerung, in das wirklich Notwendige,  für Veränderung  dieser gleichen Perspektiven, zu investieren: nämlich ein professionelles diplomatisches Korps und eine starke und nachhaltige überparteiliche Lobbying-Infrastruktur, zumindest in Washington, Brüssel, London und Berlin. Während Serbien und Kroatien allein in den letzten zehn Jahren zusammen zig Millionen Dollar ausgegeben haben, um ausländische Regierungen für die interne politische und verfassungsmäßige Struktur von Bosnien und Herzegowina zu beeinflussen, haben die Bosnier genau null Dollar ausgegeben, um das Überleben ihres Staates zu verteidigen. Das ist unverständlich und inakzeptabel.
Wir gehen davon aus, dass diese Kultur der Verantwortungslosigkeit, die in der Politik von Bosnien und Herzegowina vorherrscht, das Ergebnis einer impliziten Erkenntnis innerhalb der führenden Elemente der politischen Klasse des Landes ist, dass sie nicht in der Lage sind, die Interessen Bosniens zu verteidigen, aber die Anerkennung wird von ihrem perversen Glauben begleitet,  wenn anderen erlaubt wird zu zeigen, dass sie Bosnien verteidigen können – den Bürgern von Bosnien und Herzegowina die Führung zu geben – dies das Ende ihrer innenpolitischen Karriere bedeuten würde. Als solche sind sie bereit, den Zerfall und die Zersplitterung Bosniens zu riskieren, um ihre eigene Inkompetenz zu vertuschen. Wir wissen nicht, ob sie sich über jeden Aspekt und jede Konsequenz ihres Handelns im Klaren sind. Aber es ist klar, dass es bei den meisten angeblich pro-bosnischen politischen Establishments an grundlegender Kompetenz mangelt und dass die Souveränität und territoriale Integrität des Landes systematisch angegriffen werden, ohne dass sie darauf reagieren.
Die Reaktion auf diese sehr schwere Situation erfordert das systematische Engagement wahrhaft demokratischer und patriotischer Elemente innerhalb des politischen Establishments, der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft von Bosnien und Herzegowina, um ihre Ressourcen zu bündeln, um die Institutionen zu schaffen, die für die Entstehung einer neuen Klasse politischer Führer in Bosnien und Herzegowina erforderlich sind.  Man muss auch Institutionen schaffen, die für die Interessenvertretung Bosniens im Ausland notwendig sind. Ohne ein solches Engagement und ohne solche Bemühungen wird unsere inkompetente und provinzielle politische Klasse schließlich zulassen, dass die bereits starken antibosnischen Elemente im Land und in der Region erfolgreich aus den definitiv zurückhaltenden Gefühlen des Westens Kapital schlagen, um im Endeffekt, die bosnische Souveränität zu brechen. Die historische Aufgabe dieser Generation  und vor allem von jungen Bosnierinnen und Bosnier besteht darin, dies zu verhindern, auch wenn dies bedeutet, eine Phase der Konfrontation sowohl mit der etablierten Elite unseres Landes als auch mit Teilen der internationale Community.
Dies ist in jedem Fall ein Projekt, das schon vor Jahren hätte gestartet werden sollen, was leider nicht erfolgt ist. Infolgedessen wird die erste Periode demokratischer und politischer Mobilisierung zur Verteidigung der bosnischen Eigenstaatlichkeit notwendigerweise ein Reparaturprozess sein. Wir werden nichts Neues aufbauen können, bis wir wieder aufgebaut haben, was zerstört, geplündert und kaputt war. Wir müssen noch heute anfangen, wenn wir eine Chance auf ein besseres Morgen haben wollen. Sowohl in Bezug auf unser Verhältnis zum politischen Westen als auch in Bezug auf die demokratischen Perspektiven von Bosnien und Herzegowina.
Der Kampf für ein liberales und demokratisches Bosnien und Herzegowina erfordert Entschlossenheit und Organisation, an denen es in den Jahrzehnten nach dem Krieg schmerzlich mangelte. Dies erfordert die Störung bequemer, parasitärer politischer Normen, die sowohl den Staatsapparat als auch das Politikverständnis der Öffentlichkeit erfasst haben. Und vor allem erfordert es ein tiefes persönliches Engagement und Verpflichtung einzelner Bürger und Aktivisten in der breiteren bosnischen Gemeinschaft, einschließlich der Diaspora, sich für den Kampf für die Schaffung – und nicht für das Schenken – des Rechts auf eine konstitutionelle, liberale, demokratische Republik einzusetzen.  
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Der Hauptredner der Sesion war dr. Jasmin Mujanović,  Politikwissenschaftler und Politikspezialist für südosteuropäische und internationale Angelegenheiten, auch Autor des Buchs „Hunger and Fury: The Crisis of Democracy in the Balkans“.

Adil Kulenović, President
  
Association of Independent Intellectuals – Circle 99 (Bosnian: Krug 99), a leading Bosnian think-tank, was established in Sarajevo in 1993, in the midst of the Bosnian war (1992-1995), while the capital was under siege. Circle 99 provides a platform to bring together intellectuals of various professional and ethnic identities; university professors, members of the Academy of Sciences and Arts of Bosnia and Herzegovina, artists, journalists, entrepreneurs, diplomats, and other prominent figures from Bosnia and from abroad. Multidisciplinary discussions and initiatives are held each Sunday throughout the academic year, in the form of regular sessions about politics, science, education, culture, economy, and other societal issues. The overall goal is to sensitize the public towards a democratic transformation, achieving and maintaining peace, and integration of modern Bosnia into the community of countries fostering liberal democracy. Circle 99 has been declared an organization of special significance for the city of Sarajevo.